Fensterworte

Für die Glasfenster des ersten Goetheanums wurde nach den Angaben Rudolf Steiners eine spezielle Form der Glaskunst entwickelt, nämlich eine Form der Glasradierung, bei der einfarbigen Glasscheiben gestalte Motive einradiert wurden. Durch die so entstandene unterschiedliche Glasdicke kamen die Motive im einfallenden Sonnenlicht besonders deutlich zur Geltung. Die farbigen Glasfenster des Goetheanums wurden im sogenannten Glashaus hergestellt.

 

Nun wissen wir auch, dass die Tat des Christus, diese Veranlagung der Verbindung des Makrokosmos und Mikrokosmos für die ganze Menschheitsentwicklung und damit potentiell die Überwindung des Bösen, durch eine lange Mysterien-Entwicklung vorbereitet worden ist. Die Entwicklung finden wir dargestellt im Ersten Goetheanum, weil dieselbe in einer metamorphosierten Art weiterlebt, verwandelt durch den Christusimpuls auch in den neuen Mysterien, in dem neuen Einweihungsweg. Man kann einen Hinweis darauf schon im roten Fenster entdecken. Wir sehen dort, dass die Gestalt, das Menschenantlitz, wie inspiriert wird von zwei Seiten: einerseits von der rechten Seite durch den Löwen, andererseits von der linken Seite durch den Stier. Unter vielem anderen, was diese Gestalten bedeuten, weisen sie auch auf die beiden Mysterienwege, den nördlichen und den südlichen, für die Rudolf Steiner immer zwei große Eingeweihte als Musterbeispiele angeführt hat: Zarathustra für den nördlichen Weg, für den der Löwe ein Sinnbild ist, der brüllend in die Welt geht; Buddha für den südlichen Weg, für den als symbolisches Tier die Kuh steht, jenes Tier, das auf der Wiese meditativ sich nach innen vertieft. Nun wissen wir, dass auf den beiden großen Wegen der Zugang zu der geistigen Welt gesucht wurde, soweit das in vorchristlichen Zeiten überhaupt möglich war: in den nördlichen Mysterien durch das Sich-verbinden mit der Geistigkeit hinter der physisch-sinnlichen Welt und in den südlichen Mysterien durch die Vereinigung mit der Geistigkeit in den Tiefen der menschlichen Seele. Wenn man in den Mysterien auf den zwei Wegen weiterging, dann musste man – aber nicht vereinigt, wie in den heutigen Mysterien, sondern streng getrennt – begegnen den Versuchungen von Ahriman in den nördlichen Mysterien und von Luzifer in den südlichen Mysterien. 

 

Das heißt, nachdem man wie einen Inspirationsimpuls bekommen hat durch die Ausgangsgestalten des Löwen und des Stieres, geht es immer kreuzweise von der südlichen Seite auf die nördliche Seite und von der nördlichen Seite auf die südliche, so dass wir in dem großen Saal in der Folge begegnen auf der nördlichen Seite der ahrimanischen Versuchung, in dem nördlichen grünen Fenster und auf der südlichen Seite der Versuchung Luzifers. Wenn man weitergeht, kreuzen sich die Wege nochmals, damit immer mehr einen Caduzeus bildend. Indem der Mensch auf dieser Ich-Achse des Baues von Westen nach Osten schreitet, werden die zwei Kräfte mehr und mehr ineinander geflochten. Denn es geht nicht um die alten Mysterien, bei denen die Wege getrennt waren, sondern um die neuen Mysterien, durch die die Wege an der Zeitenwende miteinander verflochten wurden, so dass die zweifache Welt jetzt einen Weg bildet, der durch die Achse West-Ost gekennzeichnet ist. Damit sehen wir bei den nächsten zwei [blauen] Fenstern  die Gebiete des Kosmos, die uns von Luzifer und von Ahriman verschlossen werden. Die Welt der Zeit ist uns von Luzifer verschlossen, jene Welt, durch die aus dem Zeitelement heraus der Mensch geschaffen wurde. Die Welt des Raumes im geistigen Sinne wird uns durch Ahriman verborgen, wo eigentlich gezeigt wird, wie der Mensch als Mikrokosmos in sich alle Kräfte des Makrokosmos trägt. 

 

Wir gehen weiter. Wie im Caduceus kreuzen sich nochmals die Wege, und wir erfahren nun die Geheimnisse der Geburt, die uns ebenfalls von Luzifer verschlossen und die Geheimnisse des Todes, die uns durch Ahriman verdeckt werden und in den neuen Mysterien offenbart werden müssen. Nur wenn wir das Vorgeburtliche mit dem Nachtodlichen verbinden, d.h. die beiden Motive der zwei violetten Fenster, können wir zum Erlebnis der Ewigkeit im Ich kommen. Wenn wir diesen Schritt tun, erleben wir die zweifachen Möglichkeiten, Christus heute zu begegnen. Auf einem Wege begegnen wir – es ist der verwandelte südliche Pfad – am Ende, im letzten rosa Fenster dem Christus in seiner gegenwärtigen ätherischen Gestalt. Es wird das Christus-Antlitz offenbart aus der Welt der Pflanzen, aus dem Umkreis des Ätherischen, und ein Schutzengel führt uns diesem Ereignis entgegen, denn die Begegnung mit dem ätherischen Christus kommt zuerst in das Leben des Menschen durch eine höhere Gnade, für die unser Schutzengel als Offenbarung einsteht. [...]
 


Aus dem Buch „Anthroposophie wird Kunst“, Hg Karl Lierl, Florian Roder; Sergej Prokofieff,
„Das Erste Goetheanum und das Fünfte Evangelium“

 


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