Der Theosophische Kongress Pfingsten 1907 – Geburtsstunde der selbstständigen Anthroposophie
Die Anthroposophie als zeitgemäß-fruchtbare Geisteswissenschaft ist im ersten Jahrsiebt des vorigen Jahrhunderts von Rudolf Steiner innerhalb der Theosophischen Gesellschaft grundlegend-anfänglich entwickelt worden. Das Jahr 1907 bezeichnet einen ersten Abschnitt in der Verselbstständigung, Konsolidierung und Verlebendigung der Anthroposophie als Methode (Schulungsweg) und Geistinhalt. Dies wird besonders deutlich im Pfingstkongress 1907 in München, in dem sie sich als fruchtbarer Grund für eine Erneuerung aller Künste erweist, ihr wissenschaftlicher Kern immer deutlicher Gestalt annimmt und der Beginn einer Hochschule für Geisteswissenschaft sichtbar wird. So ist vor dreimal dreiunddreißigeindrittel Jahren der Anfang zur Erneuerung der Mysterien geschehen. Vieles von dem, was bisher daraus geworden ist und lebt, wird im kommenden Jubiläumsjahr mannigfaltig zur Darstellung kommen.
1907, da war die Welt noch in Ordnung! München war königlich-bayerisch und weit von jeder apokalyptischen Stimmung entfernt! Es war die „gute alte Zeit“! Niemand konnte damals ahnen, was im 20. Jahrhundert noch auf die Menschheit zukommen sollte.
Wirklich niemand? – Rudolf Steiner hielt in München vom 27. Oktober bis 6. November 1906 drei öffentliche Vorträge und acht für die Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft, deren Generalsekretär er seit 1902 war. Der Inhalt: „Die Theosophie an Hand des Johannes- Evangeliums“ (GA 94). Die drei öffentlichen Vorträge beschäftigen sich mit Krankheit und Tod, Kindererziehung und mit dem Thema: „Blut ist ein ganz besonderer Saft“ (GA 55). Es waren Vorträge über die Apokalypse, über Christusnähe und über das Ich des Menschen.
Und warum in München? Warum nicht in Berlin, wo er damals seinen Arbeitsschwerpunkt hatte? Rudolf Steiner gibt „rein praktische Beweggründe“ an, denn „nur dort“ in München gäbe es die geeigneten Kräfte „für die lange und viel Hingebung erfordernde Arbeit“. Und Pfingsten(!) erscheine als Datum am geeignetsten. München war damals auch der Ort, an dem eine neue Gestaltung mit Kunst, Musik, Rede und dem Anknüpfen an alte Mysterien die besten Voraussetzungen hatte. In München, so Steiner in „Mein Lebensgang“ wirkte in die anthroposophische Arbeit von vorneherein das künstlerische Element. Und in dieses ließ sich eine Weltanschauung wie die aufkeimende Anthroposophie in ganz anderer Art aufnehmen als in den Rationalismus und Intellektualismus der in Berlin vorherrschte, denn das künstlerische Bild ist spiritueller als der rationalistische Begriff. Es ist auch lebendig und tötet das Geistige der Seele nicht, wie es der Intellektualismus tut. Die tonangebenden Persönlichkeiten für die Bildung einer Mitglieder- und Zuhörerschaft waren in München solche, bei denen das künstlerische Empfinden in der angedeuteten Art wirkte.“ – Damit waren Sophie Stinde und Pauline von Kalckreuth gemeint.
München selbst hatte damals eine besondere Anziehungskraft für Künstler seit Ludwig I. Um 1907 lebten und arbeiteten sie in Schwabing, das Café Luitpold war ihr Treffpunkt. Die Wohnung von Stinde und Kalckreuth war mitten in Schwabing, in der Adalbertstraße 55. Steiner hielt seine Vorträge in den Prinzensälen des Café Luitpold und der Kongress wurde in den Kaim-Sälen in der Türkenstraße veranstaltet. Salopp könnte man sagen: „Man sah sich“.
In seinen Vorträgen saßen damals Christian Morgenstern und Carl Ludwig Schleich, Käthe Kollwitz und Erich Mühsam und 1907/08 verschiedentlich auch Kandinsky. So erinnert sich Maria Strakosch-Giesler, eine ehemalige „Phalanx“-Schülerin (Phalanx war eine Künstlervereinigung in München, von Kandinsky mitbegegründet, aber schon 1904 wieder aufgelöst wurde) an jene Zeiten wie folgt: «Gemeinsam besuchten wir Vorträge Rudolf Steiners ... und saßen hinterher noch lange in angeregten Gesprächen zusammen. Bei dieser Gelegenheit erwies sich Kandinsky als ein Geistsucher, der auch in den modernen geistigen Strömungen gut Bescheid wußte.» Zu einem Erlebnis besonderer Art wurde für Kandinsky Steiners Vortrag vom 26. März 1908, der mit einer Passage aus dem zweiten Teil von Goethes „Faust“ ausklang: ‚So bleibe denn die Sonne mir im Rücken ... Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.‘ – Unmittelbar danach malte Kandinsky die ‚Ariel-Szene‘: Faust im Magiermantel mit sieben Knöpfen. Neben ihm Ariel, der sich einem der sylphischen Wesen zuneigt, die ihn in seinem Schlaf umgeben haben. Im Hintergrund ein Regenbogen, gleichsam ein Abglanz der Sonne, ‚von der Lebensströme ausgehen, so mächtig, daß wir sie nicht aushalten könnten, wenn sie nicht paralysiert würden durch die Mondenkräfte.‘ (Rudolf Steiner im Vortrag vom 26.3.1908 „Sonne, Mond und Sterne“, in Die Erkenntnis der Seele und des Geistes, GA 56, S. 262)
Für Rudolf Steiner war München außerdem der «entgegengesetzte Pol anthroposophischen» zu Berlin. Mit gutem Grund. Von Berlin aus gab es seit der Jahrhundertwende ein neues Weltbild in der Physik. Max Planck legte am 14.12.1900 den Grundstein der Quantentheorie. Das wissenschaftliche Weltbild war, von den meisten Menschen unbemerkt, völlig verändert. Die exakte Wissenschaft, die Physik, geriet aus den Fugen. War sie einmal objektiv, so ist sie nun subjektiv (z.B. die Bahn eines Elektrons hängt davon ab, wer sie beobachtet). War sie vorher eindeutig, so ist sie jetzt mehrdeutig (z.B. die Natur des Lichtes ist nun entweder Strahlung oder Welle). War sie stetig, ist sie jetzt unstetig, wie das Plancksche Wirkungs-Quantum beweist. War sie einmal anschaulich, ist sie nun unanschaulich (abstrakt), wie der Spineffekt eines Elektrons. Und die Bestimmtheit wich einer Unbestimmtheit, denn der Ort eines Photons kann nicht genau bestimmt werden.
Rudolf Steiner kannte die neuesten Entwicklungen in der Physik aus Berlin. (1) Und er sagte auch, dass diese wissenschaftlichen Erkenntnisse durch den Christus-Impuls erst möglich wurden. Teil der modernen „Berliner-Erkenntnis“ ist der „Zufall“. Eine Broschüre des Max-Planck-Instituts über die Quantenmechanik trägt den Titel „Die Entdeckung des Zufalls“. Man kann in den Schilderungen der „Entdeckungen“ lesen, wie die Theorien den Wissenschaftlern zugefallen sind. Man kann hier von Imaginationen oder Inspirationen sprechen. Sie gehen aus vom intelligentesten Wesen im Kosmos, das allerdings keine Ahnung von Kunst oder gar religiöser Stimmung hat. Und genau darum geht es Steiner im Münchner Kongress. Nämlich „Formen zu schaffen als Ausdruck des inneren Lebens. Denn in einer Zeit, die keine Formen schauen und schauend schaffen kann, muss notwendigerweise der Geist zum wesenlosen Abstraktum sich verflüchtigen und die Wirklichkeit muss sich diesem bloß abstrakten Geist als geistlose Stoffaggregation gegenüberstellen. Bevor der Mensch nicht ahnt, dass Geister im Feuer, in Luft, Wasser und Erde leben, wird er auch keine Kunst haben, welche diese Weisheiten in äußerer Form wiedergibt.“ (2)
„Die Natur zeigt sich in den Mysterien, und wer Ohren hat zu hören, dem könnte an dieser Stelle der Gedanke an die poetische Aufgabe kommen, den offenen Geheimnissen der Wissenschaft die geschlossenen Form der Kunst zu geben. Mit ihr würde nicht nur eine weitere, sondern vielleicht die entscheidende Umwertung alter Werte vollzogen, nämlich Wissenschaft nach dem Modell der Kunst zu betreiben.“ (3)
Der Münchner Kongress 1907 leitete die Trennung Rudolf Steiners von der Theosophischen Gesellschaft ein und führte letztendlich 1912/13 zur Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft. Er begründete den anthroposophischen Bau- und Kunstimpuls als ein Gesamtkunstwerk im Sinne der Erneuerung der Mysterien, in welcher Kunst, Religion und Erkenntnis eins sind. Spürt man diesem geistigen Impuls nach, versteht man auch die notwendige Trennung Steiners von der Theosophischen Gesellschaft und seine Intentionen 1907, die drei Gebiete zusammen zu führen. Steiner zitiert Hegel in seinem ersten Kongress-Vortrag mit den Worten „die Menschheitsentwicklung ist ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“. (4)
Und in der Tat, es war der Geist der Freiheit, der Christus, der den Münchner Kongress impulsierte. Und man kann verstehen, dass Annie Besant in einem Brief schreibt: „Dr. Steiners Schulung ist von der unserigen sehr verschieden. Er lehrt den christlich-rosenkreuzerischen Weg (4) Der Münchner Kongress ist ein tief gehender Christus-Impuls in einer Zeit, in der die Menschen noch nicht wussten, aber vielleicht ahnten, wie sehr Ahriman in das Weltgeschehen im 20. Jahrhundert eingreifen würde“.
Steiner nennt München den „entgegengesetzten Pol zu Berlin“. Das ist verständlich, denn hier lebten keine theoretischen Wissenschaftler, sondern viele Künstler, die eine bestimmte Ätherhülle in der Stadt erzeugten und die die moderne Kunst nachhaltig beinflussen sollten. In diese Atmosphäre hinein stellte Steiner den Kongress mit seiner eigenwilligen künstlerischen Gestaltung im Geist des Gesamtkunstwerkes.
Zunächst war da die rote Dekoration des ganzen Saales. Der Grund: „Willst du dich im Innersten so stimmen, wie die Götter gestimmt waren, da sie der Welt die grüne Pflanzendecke schenkten, so lerne in deiner Umgebung das Rote ertragen, wie sie es mussten.“ (5) Dazu die sieben apokalyptischen Siegel, wobei Steiner das bis dato verhüllte siebente Siegel, das Gralssiegel, „enthüllte“, in dem er es erstmals bildlich darstellte. Zwischen je zwei Siegeln stand eine „Säule“ mit gemalten architektonischen Formen. Gemalt auf Brettern nur aus Kostengründen, jedoch bereits vorwegnehmend die Formen der planetarischen Weltenwicklung des späteren ersten Goetheanums. Hinzu kamen die beiden Säulen Jakim und Boas aus dem 4. apokalyptischen Siegel mit den Sprüchen der „Säulenweisheit“.
J (Jakim)
Im reinen Gedanken findest du
Das Selbst, das sich halten kann.
Wandelst zum Bilde du den Gedanken,
Erlebst du die schaffende Weisheit.
(linke Säule)
B (Boas)
Verdichtest du das Gefühl zum Licht,
Offenbarst du die formende Kraft.
Verdinglichst du den Willen zum Wesen,
so schaffst du im Weltensein.
(rechte Säule)
Die Programmheftgestaltung war ebenfalls bewusst in Rot gehalten mit einem Rosenkreuz darauf mit den Buchstaben E.D.N.I.C.M.P.S.S.R. Im Heft wurden fünf der sieben von Rudolf Steiner neu geschaffenen Planetensiegel als grafische Umsetzung der Säulenkapitelle abgedruckt.
In der Raumgestaltung kamen hinzu die Büsten von Fichte, Hegel und Schelling (eigenartigerweise weder Goethe, noch Novalis oder Schiller). Und auf dem Podium waren auf dem Tuch, das den Tisch bedeckte, die Tierkreiszeichen angebracht. Dahinter ein Gemälde des Münchner Malers Hass „Die große Babylon“. Dazu Ausstellungen von Malern im Saal und den Wandelhallen der Kaim-Säle. Zentral war jedoch die künstlerische Gestaltung.
1907 malte Picasso sein erstes kubistisches Werk Demoiselles d’Avignon. Beim Betrachten des Bildes von Picasso kann man heute erahnen, was der Münchner Kongress 1907 eigentlich bedeutet hat.
Karl Lierl
Literatur:
1 Rudolf Steiner, GA 61, S. 17
2 Rudolf Steiner, GA 262, S. 74
3 Ernst P. Fischer, Die andere Bildung, S. 164
4 Rudolf Steiner, GA 284, S. 32
5 Ebd. S. 36
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