Rudolf Steiner in München

Rudolf Steiner in Söcking. Aufgenommen 1910 oder 1911 in Söcking bei Starnberg von Dr. Oskar Schmiedel mit sieben Spielern des 1. Mysteriendramas.

 
v.l.n.r.: Alice Sprengel (Theodora), Marie Ritter, Bildhauer Dr. Ernst Wagner, Frau Hofrat Seiling, Harriet von Vacano (Lucifer), Hofrat Seiling (Felix Balde), Rudolf Steiner, Olga von Sivers (Felicia Balde), Max Gümbel-Seiling (Dr. Strader), Käthe Schallert, Frau Rieper (Estella und Philia), Mieta Waller (Johannes Thomasius), Gertrud Michels, Anna Michels, Thekla Michels (Frau Schmiedel) die drei Schwestern waren Bäuerinnen in „Prüfung der Seele“, Sitzend: Rudi Rieper, Elsbeth Wagner (Frau von Ernst Wagner), Helga Wagner (Baby), Excellenz von Sivers, Marie von Sivers (Maria)

 

Münchner Jugend zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Was unter den jungen Münchener Künstlern zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Gesinnung und innerem Streben lebte, schildert uns Alexander Strakosch, der von 1900 bis 1903 hier studierte und in dem Kreis um Kandinsky auch seine spätere Lebensgefährtin, die Malerin Maria Giesler fand, in seinem Buche „Lebenswege mit Rudolf Steiner“, Verlag P. H. Heiß, Straßbourg-Zürich.

„Bald lernte ich auch junge Künstler kennen und verkehrte viel im Café Stephanie, das auch unter dem Namen, Café Größenwahn‹ bekannt war. Hier saßen die Größen der Kunst und die, welche es zu werden gedachten oder sich schon dafür hielten. Frank Wedekind war hier täglicher Gast, und auch Max Halbe, Max Reger und anderen bedeutenden Künstlern konnte man hier begegnen.

Wenn der ,Bourgois‘ von München und von Künstlern hört, dann denkt er vor allem an den Fasching. Den haben die Künstler meist unter sich gehörig gefeiert. Doch lebte damals in der Bohème vielfach ein echtes Suchen nach einer vertiefteren Lebensauffassung und einer Lebensführung aus geistigen Impulsen. Abends, oft bis tief in die Nacht, führten wir auf den Ateliers, sehr oft bei dem Maler Jagersbacher, ernste Gespräche, nicht nur über künstlerische Probleme. Besonders bewegte uns die Frage, ob es jenseits der Sinneswelt eine geistige Wirklichkeit, einen Gott gäbe. Manchmal glaubten wir uns durchgerungen zu haben, dann gab es einen Gott. Das dauerte wohl einige Wochen, dann ergriff uns wieder die Unruhe und es kamen Zeiten des Zweifelns und des Suchens. Manche merkten, daß da schließlich jeder seinen eigenen Weg finden müsse und daß es auf den Weg ankäme, auf die Verwirklichung des Geistes im Leben und nicht auf eine feste Meinung, sei sie auch noch so ehrlich errungen. Konfessionelle Fragen interessierten uns nicht.

Der Künstler kann eigentlich gar nicht Materialist sein, sein Streben ist ja der lebendige Beweis gegen die Behauptung, daß der Stoff die einzige Wirklichkeit sei. Um so tiefer erlebt er dafür den Widerspruch zwischen dem, was ihn erfüllt, und der Inhaltslosigkeit, der inneren Haltlosigkeit jener anderen Lebensauffassung, die im bloßen Kampf ums Dasein den Grundzug der Lebensführung von Tier und Mensch erblicken will. Dagegen wehrten sich viele und stürzten sich je nach Charakter und Temperament auf Nietzsche und Schopenhauer. Einige fühlten sich auch bei Kant geborgen, indem sie die Sittlichkeit, für deren Begründung der Materialismus nichts geben konnte, kategorisch dem Leben einfügen wollten. Doch der Zweifel wuchs und ergriff immer weitere Kreise, denen bisher das Verharren im Überkommenen eine Art Schutz gewährt hatte.

Wir waren dazumal eine kleine Gruppe, aber einmal wurde es uns klar und wir sprachen es aus, daß in etwa 20 Jahren für weite Kreise der Jugend der Widerspruch zwischen innerem Streben und den Forderungen des äußeren Lebens zu einer grundsätzlichen Lebensfrage werden würde. Was dann tatsächlich als Jugendbewegung kam und nach kurzer Zeit im ,Bürgerlichen‘ versandete, das war nicht, was wir erwartet hatten. Das ging hervor aus dem Fühlen und kam darüber kaum hinaus, während wir nach tragenden Erkenntnissen gesucht hatten, um eine bewußte Einheit der Lebensauffassung und der Lebensführung zu begründen. Erkenntnisse muß sich jeder durch eigene Anstrengung erwerben. Aber von denen, die nach solchen Zielen streben, kann man sich verstanden und bestärkt fühlen.“

Maria Strakosch-Giesler bestätigt in einem Brief vom 5.12.1960 die von Alexander Strakosch geschilderte Situation und spricht von der eigentümlichen inneren Unruhe, die damals unter den jungen Studierenden in München zu bemerken gewesen sei. „Es war, als ob eine mahnende Stimme ihnen sagte, die bisherigen, mit Bequemlichkeit hergestellten sogenannten Kunstwerke etc. sind so nichtssagend, daß, was mein Seelisch-Geistiges erfüllt an Sehnsucht nach Weisheit, Schönheit, Stärke, nach anderen Wegen und Wirkenskräften ruft, fast könnte man sagen schreit ... Wenn man durch die großen Säle des Glaspalastes mit ihrer ausgezeichneten Beleuchtung wanderte und schaute, so sah man rings um sich immer das gleiche Bemühen: die dreidimensionale Welt mit möglichst photographischer Genauigkeit darzustellen. Das konnte aber die Photographie fast noch besser. Das Geistig-Seelische der Farbe ist das Grundprinzip der Malerei, sie verlangt aber die Fläche, ein Zweidimensionales, sonst kann sie ihre Sprache nicht erklingen lassen.“

 

Der Theosophische Kongress 1907

Vom 18. bis 21. Mai 1907 fand in München in der Tonhalle der Kongreß der Föderation der europäischen Sektionen der Theosophischen Gesellschaft statt. Rudolf Steiner betont an dieser Stelle seiner Selbstbiographie, daß künstlerische Umgebung und spirituelle Betätigung im Raum eine harmonische Einheit sein sollten und er dabei den allergrößten Wert darauf gelegt habe, die abstrakte, unkünstlerische Symbolik zu vermeiden und die künstlerische Empfindung sprechen zu lassen.

Mathilde Scholl in den „Mitteilungen für die Mitglieder der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft“ Nr. 5 vom August 1907 und Guenther Wachsmuth in „Rudolf Steiners Erdenleben und Wirken“ schildern ausführlich den Verlauf des Kongresses.

Die Zahl der Teilnehmer wird in den „Mitteilungen“ auf 600 geschätzt. Schon die Eröffnung der Tagung am 18.5.1907 brachte eine künstlerische (musikalische) Einleitung. Nach der Begrüßung durch den Generalsekretär, Dr. Steiner, und eine Ansprache der Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft, Annie Besant, nahmen die Teilnehmer – so schreibt M. Scholl – „die Gelegenheit wahr, die eindrucksvolle Ausstattung des großen Tonhallensaals näher zu besichtigen, sowie auch im Vorsaale die dort vereinte kleine, aber fesselnde Bildersammlung zu betrachten. Schon der erste Anblick des mit rotem Stoffe bekleideten großen Saales hatte auf die Gäste einen besonderen Eindruck gemacht – man gestand sich je länger je mehr, daß die intensive, jedoch nicht grelle Farbe des Raumes eine beruhigende, wenn nicht erhebende Stimmung hervorrufe. Diese Stimmung unterstützte noch eine Anzahl von plastischen Kunstwerken, sieben gemalte mächtige Säulen und sieben runde Wandbilder mit symbolischen Darstellungen, wie auch vor der Bühne, auf der die Vertreter der Sektionen Platz genommen hatten, die Büsten von Schelling, Hegel und Fichte und zwei kräftige Rundsäulen mit kugelförmigem Abschluß, auf denen die Inschriften gelesen werden konnten:

J

Im reinen Gedanken findest du

Das Selbst, das sich halten kann.

Wandelst zum Bilde du den Gedanken,

Erlebst du die schaffende Weisheit.

(linke Säule)

B

Verdichtest du das Gefühl zum Licht,

Offenbarst du die formende Kraft.

Verdinglichst du den Willen zum Wesen,

so schaffst du im Weltensein.

(rechte Säule)

Rudolf Steiner selbst erklärte in einem damals in seiner Zeitschrift „Lucifer-Gnosis“ gegebenen Bericht (abgedruckt im Nachrichtenblatt: 1937 Nr. 21 und 22) ausführlich die Ausschmückung des Saales. Von den Sprüchen sagte er, man müßte viele Bücher schreiben, wollte man den ganzen Sinn dieser Sprüche ausschöpfen, denn darinnen sei nicht nur jedes Wort bedeutungsvoll, sondern auch die Symmetrie der Worte, die Art, wie sie auf die vier Sprüche verteilt seien, die Steigerungen, die darinnen lägen, und noch vieles andere, so daß nur langes, geduldiges Hingeben an die Sache das darinnen Liegende ausschöpfen könne. (Siehe auch die Einführung Rudolf Steiners zum Bildband „Bilder okkulter Siegel und Säulen, Berlin 1907).

Immer wieder fanden außer den Vorträgen und Aussprachen künstlerische Darbietungen statt (Deklamation und Rezitation, Gesang, Streichmusik, Orgelspiel). Plastische Arbeiten, Bilder usw. von Künstlern aus der Gesellschaft waren ausgestellt. Im Mittelpunkt der künstlerischen Veranstaltung aber stand die Uraufführung des „Heiligen Dramas von Eleusis“, eines Mysteriendramas von Edouard Schuré, zu dem Bernhard Stavenhagen die Musik komponiert hatte. Die Aufführung war am 19. 5.1907. Marie von Sivers hatte schon früher das Drama aus dem Französischen übersetzt, Rudolf Steiner hatte es sprachlich für eine Bühnenaufführung eingerichtet. Marie von Sivers, die bereits am Abend vorher Stellen aus Faust II vorgetragen hatte, spielte die Demeter. Rudolf Steiner schreibt dazu in „Mein Lebensgang“, daß sie in ihrer Darstellung schon deutlich auf die Nuancen hingewiesen habe, die das Dramatische in der Gesellschaft erhalten sollte. „Außerdem waren wir in einem Zeitpunkt, in dem die deklamatorische und rezitatorische Kunst durch Marie von Sivers in dem Herausarbeiten durch die innere Kraft des Wortes an dem entscheidenden Punkte angekommen, von dem aus auf diesem Gebiete fruchtbar weitergegangen werden konnte.“

Vorträge hielten außer Dr. Steiner und Annie Besant, Michael Bauer (über „Das Verhältnis der Natur zum Menschen“), Dr. Carl Unger (über „Die Wege der theosophischen Weltanschauung“) und Frau Wolfram (über „Die okkulten Grundlagen der Siegfriedsage“). Rudolf Steiner selbst sprach am 19. 5. über „Die Einweihung des Rosenkreuzers“. War schon die Aufstellung der Büsten von Schelling, Fichte und Hegel bezeichnend dafür, wie Rudolf Steiner an das abendländische Denken, insbesondere den deutschen Idealismus anknüpfte, so auch, daß er seinen Vortrag, was Kleeberg in seinen Erinnerungen betont, mit dem Hinweis auf ein Erkenntniswort Hegels begann und mit einem Weisheitspruche Goethes beschloß. Er charakterisierte nach Erwähnung des von ihm schon behandelten Yogapfades den christlichen Einweihungsweg, um als heute zeitgemäßen den des Rosenkreuzers zu beschreiben. Am 20.5. sprach Rudolf Steiner über „Planetarische und Menschenentwicklung“. Am 21.5. erklärte er nach einer Aussprache über Erziehungsfragen die künstlerische Ausgestaltung des Tonhallensaales.

„Durch die Ausstattung des Saales“, so schließt M. Scholl ihren Bericht in den ,Mitteilungen‘, in der auch die Zeichen des Tierkreises sich wiederfanden, durch die Säulen und Siegel, wie durch das Mysterienspiel und überhaupt durch die Anordnung des ganzen Kongresses sollte, wie Herr Dr. Steiner bemerkte, ein Versuch gegeben sein, die Kunst in engerer Beziehung zu den wirklichen Lebensvorgängen zu zeigen. Wenn wir in der Kunst wieder einen Kulturfaktor erblicken wollen, von der Bedeutung die dieser im Altertum hatte, dann muß sie wieder Anschluß suchen an die hinter den Erscheinungen liegenden Vorgänge des Lebens, dann müssen die Künstler die Kraft gewinnen, uns die Lebensvorgänge selber im Bild und in der plastischen Form zu deuten.“ „Unsere Intentionen“, sagte Rudolf Steiner, rückblickend auf den Münchener Kongreß, in der Generalversammlung vom 21.10.1907 (Mitteilungen Nr. 6 vom Februar 1908), „gingen dahin, einen Anfang zu machen, die Theosophie nicht bloß eine Summe abstrakter Dogmen sein zu lassen, sondern diesen Einfluß zu verschaffen auf das Leben, das uns umgibt. Niemand kann sich der Illusion hingeben, daß die Art und Weise, wie uns die Harmonie in bezug auf die ganze Ausgestaltung des Kongresses gelungen ist, verglichen mit dem, was als theosophischer Gedanke lebt, mehr war als ein schwacher Anfang. Aber alles muß einmal anfangen ... Alles, was da zu leisten war, wurde von unseren lieben Münchener Freunden in einer nicht nur hingebungsvollen, sondern geradezu umfassend verständnisvollen Weise geleistet, so daß sich in dieser Arbeit am schönsten auslebte, was man theosophische Einheit und Harmonie nennt. “

 

In „Mein Lebensgang“ schließt Rudolf Steiner die Schilderung des Theosophischen Kongresses von 1907 mit der Feststellung ab, daß ein großer Teil der alten Mitglieder der Gesellschaft aus England, Frankreich und namentlich aus Holland „innerlich unzufrieden gewesen seien“ mit den Erneuerungen, die ihnen dieser Kongreß gebracht habe. Mit der anthroposophischen Strömung sei etwas von einer ganz anderen inneren Haltung gegeben gewesen, als sie die bisherige Theosophische Gesellschaft gehabt habe. „In dieser inneren Haltung lag der wahre Grund, warum die Anthroposophische Gesellschaft nicht als ein Teil der Theosophischen weiterbestehen konnte. Die meisten legten aber den Hauptwert auf die Absurditäten, die im Laufe der Zeit in der Theosophischen Gesellschaft sich herausgebildet haben und die zu endlosen Zänkereien geführt haben.“ Das sind die letzten Sätze der Selbstbiographie, die Rudolf Steiner noch auf dem Krankenbette schrieb.

Kleeberg, der an dem Kongreß teilgenommen hatte, bemerkt in „Wege und Worte“ u.a.: „Es war ein denkwürdiger Anblick, Rudolf Steiner und Annie Besant beieinander stehen zu sehen. Sie vertraten schon jetzt zwei Gegensätze. In fünf Jahren kam er offen zum Ausbruch …“.

Dem Kongreß waren am 22.4., 1., 8. und 15.5. Zweigvorträge Steiners über die Apokalypse vorangegangen, ihm folgten am 23. und 24.5. zwei öffentliche Vorträge über „Bibel und Weisheit“ und vom 25.5. bis 6.6.1907 ein Zyklus von 14 Vorträgen über „Die Theosophie des Rosenkreuzers“.
 

1908–1909: Kunst- und Musiksäle

Am 1.3.1908 wurde durch die Initiative von Sophie Stinde und ihrer getreuen Helferin Gräfin Kalckreuth in München-Schwabing, Herzogstr. 39/0 ein „Kunst- und Musiksaal“ eröffnet. „Wir hatten die Notwendigkeit erkannt“, schrieb am 19.8.1909 Sophie Stinde an Kleeberg, „daß Kunst und Schönheit in das Leben derjenigen Klasse eintreten müsse, die nur Arbeit und Unschönes, Prosaisches kennt. Wartet man aber, bis man Geld für derlei hat, so entsteht nie Gutes, Selbstloses. Man muß handeln, sobald man die Notwendigkeit einer guten Sache erkannt hat. Man muß mitarbeiten an der Entwicklung der Menschheit, und das ist der große Unterschied zwischen Osten und Westen, zwischen indischem Yoga und Rosenkreuzerei.“ Scholl berichtet über die soziale Tat ausführlich in Nr. 7 der „Mitteilungen“ vom September 1908: „Als ... im Laufe des Winters in einem Vortrage die inhaltsschweren Worte fielen, daß es für einen Okkultisten ein furchtbarer Gedanke wäre, daß eine ganze Klasse der Menschheit ausgeschlossen sei von aller Schönheit und aller Kunst, da mußten die Bedenken und Hindernisse fallen. Eine Stätte mußte geschaffen werden, wo den Arbeitern Kunst und Schönheit nahegebracht werden konnte – ein Raum, hart an der Straße liegend, wo die Vorübergehenden durch Transparente, mit Programm an den Fenstern und durch die Musik im hell erleuchteten Saale angezogen würden, in ihren Arbeitskleidern hereinzukommen, um eine Stunde lang Künstlerisches in dem einfachen, aber doch schönheitsvollen Raume zu genießen. Eine große Bierwirtschaft, die wegen Konkurrenz geschlossen war, fand sich nach einigem Suchen als geeignetes Lokal. Ohne Zeit zu verlieren, wurde mit der Reinigung und Ausgestaltung begonnen, und nach 14 Tagen konnte der Kunstsaal schon eröffnet werden. Ein Harmonium wurde von einem Logenmitgliede zur Verfügung gestellt, ein Klavier wurde angeschafft; Ölgemälde von Künstler-Mitgliedern, geschenkte Reproduktionen, Lorbeerbäume, Blumen, Plastiken schmücken den Raum und von Freunden, Bekannten, Verlegern wurden Kunstwerke aller Art erbettelt... Draußen, neben der Türe, wurde ein Schild angebracht mit der Inschrift: Kunst- und Musiksaal, Eintritt frei. Auf einer Glastafel, die in einem der Fenster ausgehängt wurde, stand das Wochenprogramm zu lesen, auf einer zweiten im anderen Fenster das Tagesprogramm. Der Saal ist jeden Abend – außer montags – geöffnet und dreimal außerdem am Tage. Einmal wöchentlich – sonntags – werden Lichtbilder mit Erklärung, Rezitationen und Musik gebracht. Zweimal wöchentlich ist Konzertabend. Drei Mitglieder haben sich verpflichtet, immer mit Harmonium, Klavier und Geige (evtl. Gesang) einzuspringen und immer anwesend zu sein, falls nicht genügend Mitwirkende zu den Musikabenden erscheinen sollten. Ein festes Programm wird nicht vorher gemacht. Wer etwas geben möchte, erscheint kurz vor 8 Uhr. Dann bestimmt man erst gemeinsam die Reihenfolge, damit eine Harmonie hergestellt werde.

Jeden Mittwoch und Sonnabend nachmittag erzählt ein jüngeres Mitglied der Loge ein Märchen vor einer großen Zahl von Kindern, etwa 120 an der Zahl. Es werden fast ausschließlich die alten Märchen (z.B. Grimm) gewählt, die einen okkulten Hintergrund haben. Auch diese Erzählungen werden mit Gesang und Musik eingeleitet und beschlossen. (Übrigens werden auch im theosophischen Lesezimmer jeden Sonntagnachmittag von einem Mitgliede den Kindern solche Märchen erzählt) ... Am Mittwochabend und am Sonntagmorgen zwischen 9 und 12 Uhr werden die Kunstwerke ausgelegt. Abends nur für Erwachsene, sonntags auch für größere Kinder. Viele Mitglieder helfen, die Ordnung halten und erklären; das ist ein reiches Arbeitsfeld. Freitags sind einführende Vorträge über Theosophie für solche, die noch nichts oder wenig davon gehört haben ... Am ersten Abend kamen gleich dreißig Leute, die noch nichts von Theosophie wußten, die es sich nur einmal anhören wollten. Das Gehörte hat sie dann so gefesselt, daß sie den nächsten Abend kaum erwarten konnten, wie einige sagten, und seitdem ist die Zahl der ständigen Hörer auf etwa 40 gestiegen. Auch dieser Abend wird wie jeder Abend mit Musik eröffnet und beschlossen.... Am Sonnabendabend werden Sagen, Mythen und Heldengeschichten verlesen und dazwischen erzählt und in Poesie rezitiert. Auch Dramen und Rezitationen aller Art sind mit auf das Programm gesetzt. Der Anfang wurde mit den Nibelungen gemacht.

Außer den ständig hängenden Bildern gibt es noch eine kleine Wochenausstellung von Radierungen, Kupferstichen, Zeichnungen, Reproduktionen nach echten Meistern, die von den verschiedenen Mitgliedern auf 8 oder 14 Tage geliehen werden. Es helfen jetzt schon über 20 Logenmitglieder in dem Musikraume und viele Freunde gelegentlich oder auch ständig. Es ist nicht ausgeschlossen, daß noch in anderen Stadtteilen ähnliche Kunststätten entstehen, sobald sich genügend Mitarbeiter finden und wieder jemand bereit ist, die Einrichtung zu beschaffen und die jährlichen Ausgaben von etwa Mk 900 bis 1000 zu bestreiten.

Sehr viel Beifall hat auch die Idee gefunden, Dilettanten aus allen Kreisen, die künstlerisch studiert haben, Gelegenheit zu geben, sich hier einen Wirkungskreis zu schaffen. Immer mehr Mitwirkende finden sich für die Konzertabende und so kann das Programm auch immer reichhaltiger werden. Außerdem werben alle Logenmitglieder unter ihren Freunden, so daß wohl kaum je ein Mangel an Mitwirkenden eintritt. Und voller Dank sind die Zuhörer für alles, was ihnen geboten wird. Durch diesen Kunstsaal wird die Brücke geschlagen zwischen den Theosophen – den sogenannten Vornehmen und Reichen! und der armen arbeitenden Bevölkerung, was letztere als etwas sehr Erfreuliches empfindet“.

Die Schilderung wurde so ausführlich gebracht, weil sie in ihrer Konkretheit und Lebendigkeit einerseits zeigt, wie sehr sich die Verhältnisse in 50 Jahren gewandelt haben, andererseits aber auch den Gegenwärtigen unmittelbar etwas zu sagen hat. Wieviel Eifer und Schwung, wieviel Kraft der Phantasie und Vertrauen zur Improvisation treten uns aus diesem Bericht entgegen, und wie viele Menschen haben als Erwachsene oder Kinder in München von der Anthroposophie ausgehende geistige Anregung empfangen!

 

Am 4.11.1909 wurde in der Zieblandstraße 24 als Ersatz für das theosophische Lesezimmer in der Damenstiftstraße ein zweiter „Kunstsaal“ eröffnet. Das Lesezimmer in der Damenstiftstraße war schon lange viel zu klein, so daß die „Kunstabende“ schon im zweiten Winter ihrer Gründung fallen gelassen wurden („Mitteilungen“ Nr. 10 vom Januar 1910). Das Programm war ähnlich dem in der Herzogstraße.

Im Dezember 1909 wurde ein vierter Zweig gegründet. Die Mitgliederzahlen der vier Zweige werden in Nr. 13 der „Mitteilungen“ vom März 1912 wie folgt angegeben: München I 165, II 30, III 25, IV 26. In dem Mitteilungsblatt vom April 1914 werden nur noch drei Zweige der Anthreposophischen Gesellschaft aufgezählt: München I, München II und München (Goethe-Arbeitsgruppe).

 

1909: Die Kinder des Lucifer von Schuré

Auch im Jahre 1909 verband Rudolf Steiner in München künstlerische und geisteswissenschaftliche Arbeit. Am Ausgangspunkt der Gründung der Deutschen Sektion im Jahre 1902 hatte er in Berlin einen Vortrag über „Die Kinder des Luzifer“ gehalten. jetzt, nach 7 Jahren, konnte er es wagen, dem seinerzeit vor einem mehr literarisch interessierten Publikum gehaltenem Vortrag die Aufführung des dazugehörigen zeitgenössischen Bühnenwerkes folgen zu lassen. Jetzt waren über 600 Zuhörer und Zuschauer da, in denen das Werk des Dichters Widerhall finden konnte. Am Vormittag des 22.8.1909 fand im Schauspielhaus die Uraufführung des Dramas von Edouard Schuré „Die Kinder des Luzifer“ statt. Daran schloß sich vom 23. bis 31. 8. im Prinzensaal des Café Luitpold ein Zyklus von 9 Vorträgen, der den Titel trug: „Der Orient im Lichte des Okzident. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi.“ Im ersten Vortrag wies Rudolf Steiner auf die oben geschilderten Zusammenhänge hin und sprach "von der Notwendigkeit, warten zu können, bis aus dem Schoße der Zeit etwas Neues gereift ist. Spiritualität hat eine sieghafte Kraft.“

Über Edouard Schuré und Rudolf Steiner siehe auch Camille Schneider „Edouard Schurés Begegnungen mit Rudolf Steiner“, Basel 1933, Verlag Rudolf Geering.

Außer den Vorträgen hielt Rudolf Steiner „für diejenigen, welche schon einige Jahre der Bewegung angehörten und sich übend in die Geist-Wirklichkeit einzuleben bestrebten“, (A. Strakosch) die sogenannten esoterischen Stunden.

 


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